Der kleine Bub in der dicken Kruste

von | Jan 5, 2023

Sehr sensible, feinfühlige kleine Buben haben es in unserer Gesellschaft besonders schwer. Und das hat traurige Folgen, für sie selbst und ihre Familien. Doch ein Happy end ist möglich. Lesen Sie hier die berührende Geschichte vom kleinen Buben in der dicken Kruste.

Öfters kommen Paare zu mir, die schon lang, vielleicht schon seit Jahrzehnten, zusammen sind und bei denen die Frau sagt: „Ich kann nicht mehr und ich will nicht mehr.“ Die Frau hat den Mann in die Paartherapie geschleppt. Oder mitunter hat sogar er den Termin vereinbart, aber nur, weil seine Frau gesagt hat, jetzt ist es aus. Schon oft hat sie Paartherapie gefordert, immer hat er sich geweigert. Aber jetzt, wo sie sagt, es reicht, jetzt ist er da.

 

Jahrzehntelang im Überleben

Und hier sitzen sie nun. Nennen wir sie Peter und Annelies. Ich kann spüren, dass sie beide sehr nervös sind. Peter hat ein schlechtes Gewissen, nicht erst jetzt, sondern ganz tief drinnen schon seit vielen, vielen Jahren, denn seine Frau klagt schon seit Jahren oder Jahrzehnten darüber, wie schlecht er sie behandelt. Und es stimmt. Er behandelt Annelies achtlos. Er sagt, er wird abends zum Essen daheim sein, sie kocht, aber er kommt nicht und ruft auch nicht an. Obwohl sie beide berufstätig sind, lässt er Annelies den ganzen Haushalt allein machen und bedankt sich noch nicht einmal dafür. Etwas Nettes hat sie sowieso schon lang nicht mehr von ihm gehört. Peter trinkt regelmäßig zuviel Alkohol, obwohl er weiß, dass Annelies Angst hat vor Alkohol, weil ihre Mutter getrunken hat. Und deshalb hasst Annelies es wie die Pest, wenn Peter angetrunken heimkommt.

Und Annelies? Peter kann sich selbst beruhigen, indem er mir wahrheitsgetreu erzählt: „Meine Frau nörgelt und keift ständig! Nichts kann ich ihr recht machen. Das hält ja keiner aus! Deshalb geh ich halt nach der Arbeit gleich ins Wirtshaus. Ich werd ja sozusagen hingetrieben.“

Annelies sagt: „Es stimmt, ich nörgle und keife wirklich seit Jahrzehnten, und das völlig vergeblich. So kann ich mich selber nicht leiden. Ich kann und mag so nicht mehr weitermachen. Das ist Überleben, aber kein Leben! Die Jahre, die mir noch bleiben, will ich heraus aus dem Überleben, ich will leben, nicht mich kränken und streiten! Die Paartherapie wäre unsere letzte Chance gewesen, wenn du schon vor Jahren mitgegangen wärst, aber erst jetzt, wo ich nicht mehr will, hast du dich in Bewegung gesetzt. Jetzt ist es zu spät. Für mich ist es nicht 5 nach 12, sondern halb drei. Ich verlasse dich, Peter! Ich will die Scheidung!“

 

Heilsame Schockstarre

Peter bringt kein Wort heraus. Er erstarrt. Annelies sagt ja schon seit Jahrzehnten, dass sie überlegt zu gehen, aber sie hat nie Ernst gemacht. Er hat sie nie ernst nehmen müssen. Aber jetzt…

Jetzt ist Peter zutiefst geschockt, bis in den Kern seines Wesens. Denn dort, ganz tief drinnen, liebt er seine Annelies. Sie ist der Mittelpunkt seines Lebens. Ein Leben ohne sie kann und will er sich gar nicht vorstellen. Er hat panische Angst. Die Vorstellung, seine Frau zu verlieren, ist für Peter schlimmer als ein Alptraum. Ist ein schwarzes Loch ohne Boden.

Moment…. Peter liebt seine Frau…? Wirklich…? Ja, das tut er. Sehr sogar.
Aber das sieht doch gar nicht danach aus, er behandelt sie doch seit Jahrzehnten fast wie einen Fußabtreter…? Da stimmt doch etwas nicht? Was ist denn da los…?

 

Ein Biotop wie ein Stahlbad

Schauen wir einmal in die Kindheit der beiden.

Viele Kinder werden in schwierige Familien hineingeboren (siehe auch mein Blogartikel „Paartherapie ist Traumatherapie“). So auch unser Peter. Und auch Annelies.

Peter ist auf einem kleinen Bauernhof aufgewachsen. Sie waren 7 Kinder, Peter war der Älteste. Der Vater ging auswärts arbeiten, nach der Arbeit ging er pfuschen, nach dem Pfuschen ins Wirtshaus. Die Mutter war mit den sieben Kindern und der ganzen Arbeit allein daheim am Hof. Die Kinder mussten von klein auf sehr viel arbeiten. Besonders Peter als Ältester. Wenn der Vater spät heimkam, war er oft angetrunken, und die Mutter schimpfte. Mit den Jahren kam der Vater immer noch später und immer noch angetrunkener heim. Und war dann oft sehr aggressiv, auch gegen die Kinder. Lob gab es für die Kinder kaum jemals, es galt die alte giftige Regel: „Ned gschimpft is globt gnua.“ „Gschimpft“ hingegen wurde reichlich. Peters Vater behandelte seine Frau wie einen Fußabtreter, achtlos. Nicht dass er das absichtlich getan hätte – er kannte und konnte es einfach nicht anders. Bei seinen eigenen Eltern war es nicht viel anders gewesen. Peters Mutter war auch von ihrer Schwiegermutter immer sehr böse behandelt worden. Sie ließ es sich gefallen. Es war halt einfach so. Schon immer. Und wo sollte sie auch hin.

 

Von der Pike auf gelernt

Peter bekam also in seiner Kindheit von seinen Eltern (und Großeltern) eine solide Ausbildung darin, wie man eine glückliche Beziehung nicht führt. Weder Vater noch Mutter waren glücklich. Die Großeltern waren es auch nicht gewesen. Es ging nie um Glück. Es ging ums bloße Überleben. Ins Leben, zum Glück, fanden Eltern und Großeltern nie.

 

Der weichherzige Bub

Nun zu Peter: Der kleine Peter kam als besonders sensibles und empfindsames kleines Kind zur Welt. Er war einfach so, von Natur aus. Und das in diesem emotional verhärteten Umfeld. Natürlich erkannte niemand seine Sensibilität, er selbst schon gar nicht. Dass Peter als Bub zur Welt kam, war eine zusätzliches Erschwernis. Denn ein Bub hatte stark und hart zu sein, nicht weich und empfindsam. Es wurde nicht einmal überlegt, ob er vielleicht sensibel sein könnte. So etwas gab es gar nicht. Er war ein Bub. Wenn Peter weinte, wurde er dafür lächerlich gemacht, wie es seit Generationen geschah: „Heulsuse! Ein echter Bub weint nicht!“ Wenn er Angst hatte, wurde er ausgelacht und beschämt. Wenn ihm etwas wehtat, hieß es: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz!“ Wenn er kuscheln wollte, hatte sowieso niemand Zeit, und zusätzlich galt: Buben müssen hart sein und nicht weich und nicht kuscheln wollen, also: „Was soll das, weg mit dir“. Und die ganze Gesellschaft rundherum half mit: Buben mussten hart sein.

 

Die vergessene Einkrustung

Das alles war für den sensiblen, weichherzigen, süßen kleinen Peter kaum zu ertragen. So viel Schmerz, Angst, Beschämung. Und so kam es, dass Peter, um in dieser Familie überleben zu können, sich schon als ganz kleines Kind sozusagen eine dicke Kruste zulegen musste. Um sich zu schützen. Er packte sich in diese Kruste ein, und von seinen Gefühlen musste er sich sozusagen abtrennen, sie ausschalten, um all das Schmerzhafte nicht mehr fühlen zu müssen. Ich sehe oft bildlich vor mir, wie der kleine Bub, 3 oder 5 Jahre alt, schon in eine ganz dicke Tonkruste eingebacken ist, vielleicht 30 Zentimeter dick. Diese Tonkruste ist außen ganz rau und hart sowieso. Wie ein echter Mann halt zu sein hat.

Peter hat heute keinerlei Erinnerung mehr an seine allerersten ein, zwei Lebensjahre, bevor die Kruste sich um ihn schloss. Der Arme meint, er sei so auf die Welt gekommen, wie er jetzt ist. Grob, rau, hart, gefühllos. Er meint: „Ich bin halt einfach so. War es schon immer.“

 

Kurze Befreiung: Verliebtheit

Mit 23 lernt Peter seine Annelies kennen. Sie verlieben sich Hals über Kopf, und Annelies spürt sofort: Das ist ein ganz sensibler, warmherziger Mann, den ich da gefunden habe. Er hat ein goldenes Herz. Und in den ersten Monaten der Verliebtheit ist Peters Kruste wundersamerweise weich, ganz unsichtbar und gar nicht spürbar. Peter kann Annelies seine Liebe zeigen und sie ihm auch. Sie schweben auf Wolke sieben.

 

Überleben in Erstarrung mit blutiger Nase

Dann aber erstarrt Peters Kruste langsam wieder… und Peter in ihr. Die Kruste wird wieder so steinhart wie sie (fast) schon immer war. Und Annelies? Sie holt sich an der rauen Oberfläche von Peters Kruste eine blutige Nase. Täglich. Über Jahrzehnte. Dem drinnen eingesperrten Peter ergeht es in Wirklichkeit nicht besser. Er ist ebenso einsam wie Annelies – und hat dazu noch chronisch schlechtes Gewissen. Da hilft oft nur noch Alkohol, um das alles nicht fühlen zu müssen.

Wieso gibt Annelies nicht auf? Weil sie die ganze Zeit über spürt: Da drinnen irgendwo, da ist der Mann, in den ich mich verliebt habe. Der Mann, den ich liebe. Es muss doch möglich sein, dass ich wieder zu ihm durchdringe! Aber was immer sie probiert (weinen, erklären, bitten, schimpfen, nörgeln, wütend schreien) macht Peters Kruste nur noch dicker und noch rauer und noch härter.

 

Und dann: Der Vorschlaghammer!

Bis sie jetzt hier in der Paartherapie sitzen. Und Annelies sagt: „Ich verlasse dich, Peter! Ich will die Scheidung!“ Und sie meint es – zum allerersten Mal(!) – wirklich ernst. Und das macht den entscheidenden Unterschied.

Dieser erstmals ernst gemeinte Satz wirkt, als wenn Annelies einen schweren Vorschlaghammer auf Peters Tonkruste niedersausen ließe. ´Gonnnggggg´, tönt die Tonkruste. Und dann macht es: krackskrackskracks… es beginnen sich Risse in der Kruste zu öffnen, sie breiten sich aus, durchziehen schon die ganze Kruste, und da – plötzlich fallen die ersten großen Stücke zu Boden! Und Peter, der empfindsame, warmherzige, sensible Peter, der jahrzehntelang eingeschlossen war, ohne es zu wissen, kommt erstmals seit Jahrzehnten wieder zum Vorschein. Er weint, er schluchzt, die Tränen rinnen unaufhaltsam.

Und diesmal lacht ihn niemand dafür aus.

 

…und die wunderbare Wiederbelebung.

Ganz im Gegenteil. Der verzweifelte Peter, der da zum Vorschein kommt, wird sehr liebevoll empfangen. Annelies ist gerührt: „Weißt du, dass ich dich jetzt gerade zum allerersten Mal weinen sehe?“, sagt sie fassungslos. „Dabei sind wir seit 30 Jahren zusammen.“ Und sie umarmt ihren Peter ganz spontan. Den wirklichen Peter. Den sensiblen, empfindsamen Peter, der endlich befreit, immer noch weinend, sein Glück kaum fassen kann. Denn seine Annelies drückt ihn jetzt ganz fest. Dann setzt sie sich wieder auf ihren Sessel und lächelt Peter mit tränenfeuchten Augen an.

Plötzlich wird Peter bewusst, dass er jetzt ganz panzerlos ist, so ähnlich wie ein Krebs nach der Häutung. Ihm wird ein wenig mulmig zumute.  Er sagt: „Ich fühl mich grad sehr schutzlos und verletzlich.“ (Wie schön, dass er das jetzt fühlen und ausdrücken kann!) Ich schlage vor: „Hmmm, schutzlos fühlst du dich… Ja, das versteh ich. Und ich möchte dir noch eine weitere Sichtweise anbieten. Wie wäre es denn mit `berührbar´? Du bist jetzt berührbar, du bist berührt, oder? Und du berührst Annelies, schau mal zu ihr rüber, da siehst du es gerade. Stimmts, Annelies? Und du kannst deine Annelies auch spüren und fühlen, Peter, oder?“ „Genau“, sagen beide gleichzeitig und reichen einander die Hände. „Schön ist das.“ Und Peter fügt dazu: „Berührbar, ja, das gefällt mir. Fühlt sich gut an.“

In dieser Stunde fließen noch viele Tränen, bei beiden. Und das ist gut so. Peter hat die vor Jahrzehnten gekappte Verbindung zu seinen eigenen Gefühlen wiedergefunden. Und Annelies? Die liebt ihren Peter, den, auf den sie Jahrzehnte gewartet hat und der jetzt endlich vor ihr sitzt.

Ich erzähle beiden die Geschichte, das Märchen vom kleinen Buben in der Kruste. Und sie hören bewegt zu und beginnen zu verstehen, was ihnen (und den Generationen vor ihnen) zugestoßen ist. Ich sage ihnen, dass es gerade die sensibelsten Kinder sind, die sich am allerdicksten einkrusten müssen, um überleben zu können. „Ja“, sagt Peter. „Mein Papa wollte eigentlich Musiker werden, aber das war nicht möglich… Ich glaub, meinem Papa ist es irgendwie ähnlich gegangen wie mir.“

In dieser Stunde beginnt Peter auch sein Selbstbild zu ändern: „Ich bin ein sensibler Mann! Nie hätte ich das geglaubt! Aber ich spüre es gerade selbst. Und das ist etwas ganz, ganz Gutes.“ Und Annelies sagt: „Ich hab´s schon immer gewusst!“

Der Weg der Heilung beginnt. Ich begleite die beiden mit der Laterne auf diesem Heilungsweg und leuchte ihnen, wo es dunkel wird. Es gibt noch viele Wunden zu heilen aus den vergangenen Jahrzehnten. Aber die Basis dafür ist gelegt. Die Wundsalbe ist schon angerührt. Liebe fließt.

 

Ähnlich verletzte Kinder

Natürlich hat auch Annelies ihre Geschichte, die ergänzt sich gut mit Peters. Annelies hat gelernt, dass sie nicht viel wert ist. Das glaubte sie bis vor kurzem noch. Und sie hat auch gelernt, auf alle anderen zu schauen, nur auf sich selbst nicht. Da gibt es Parallelen zu Peters Mutter. So haben Annelies und Peter die Wunden ihrer Kindheit miteinander wieder auf die Bühne gestellt. Und so hat es Jahrzehnte gedauert, bis Annelies schließlich endgültig vom Überleben genug hatte und sich erstmals entschlossen auf den Weg in Richtung Leben und Lebendigkeit machte. Zu ihrem und Peters Glück.

 

Wie eine zweite Geburt

Ich durfte mittlerweile schon viele solcher „zweiter Geburten“ von dick verkrusteten, sehr sensiblen Buben/Männern miterleben. Immer war es ein großes Geschenk für mich, dabei sozusagen Geburtshilfe leisten zu dürfen. Immer weine ich mit. Es ist zutiefst bewegend. Und ich bin immer wieder tief berührt davon, wie das Leben auch unter widrigsten Bedingungen, unter Tonkrusten, Eis und Schnee, überdauert. Notfalls jahrzehntelang. Bis die Kruste schmilzt oder bricht – und das Wachstum endlich beginnen kann.

 

Vielleicht berührt diese Geschichte Sie ja auch ganz besonders?
Wenn ja, hat das bestimmt seinen tiefen Sinn.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie ihn entdecken.

 

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