Paartherapie ist Traumatherapie

von | Jan 5, 2023

Je älter ich werde (und jetzt bin ich schon ziemlich alt ; )) und je mehr Erfahrung ich sammle, desto klarer wird mir: Paartherapie ist Traumatherapie. Dasselbe trifft auch auf die Einzeltherapie zu.
Gilt das immer? Nein, nicht immer, aber oft.

* Warnung: Falls Sie traumatisiert sind – bitte Vorsicht, der folgende Text könnte triggernd wirken. *

 

So viele meiner Klienten haben in ihrer Kindheit und/oder Jugend Trauma oder andere tiefe Verletzungen erlebt. Sie denken bei Trauma möglicherweise nur an schlimme Einzelereignisse (Raubüberfall, schwerer Autounfall, Vergewaltigung, etc.). Aber Trauma umfasst viel mehr. Und auch andere psychische Verletzungen in unserer Kindheit sind oft folgenschwer, mitunter für´s ganze Leben.

Ich höre von den allermeisten Paaren, die zu mir kommen, schlimme Kindheitsgeschichten:
„Meine Eltern haben regelmäßig so schlimm gestritten, dass ich Angst hatte, sie würden einander etwas antun. Ich war noch klein, und ich erinnere mich, dass ich dann oft im Bett lag und mir die Decke über die Ohren zog, um nichts hören zu müssen, aber das half natürlich nicht. Ich hatte oft wirklich Todesangst.“ „Mein Vater hat sich nicht für mich interessiert, er hat nach der Scheidung meiner Eltern bald aufgehört, mich jedes zweite Wochenende zu sich zu holen.“ „Ich wurde oft geschlagen – an mir gingen viele Kochlöffel zu Bruch.“ „Ich habe immer wieder von meiner Mutter gehört: Dich mag niemand.“ „Meine Mutter tat zwar sehr herzlich, aber innerlich war sie lieblos, und ich war in ihren Augen immer falsch.“ „Meine Mutter/mein Vater war Alkoholiker/in.“ „Meine Mama bekam Krebs, als ich 3 war, und starb, als ich 5 Jahre alt war.“ „Als ich 2 Jahre alt war, kam mein Bruder zur Welt. Er war behindert. Für mich hatte ab da niemand mehr Zeit oder Nerven. Ich wurde zur Oma gegeben.“ „Ich wurde mit 12 von meinem älteren Cousin sexuell missbraucht.“  „Meine Mutter bestrafte mich sehr oft tagelang mit Schweigen und Beziehungsabbruch. Ich wusste gar nicht, warum. Bis ich mich schließlich entschuldigte, ohne zu wissen wofür eigentlich.“ „Mein Vater brüllte und beschimpfte mich/uns sehr oft mit den schlimmsten Ausdrücken.“ „Meine Mutter weinte sich immer bei mir aus und klagte mir ihr Leid mit meinem Vater. Ich war total überfordert, es war furchtbar.“ „Mein Vater hat mich nie gelobt, aber ständig kritisiert.“ „Ich war nur ein Mädchen – mein Vater hatte sich einen Stammhalter gewünscht.“ „Meine Mutter drohte oft, sie würde sich umbringen.“ „Mein Opa kam schwer verletzt aus dem Krieg heim. Er war lethargisch, dann wieder hatte er Wutausbrüche. Mein Vater hat schwer unter ihm gelitten.“ „Meine Großeltern waren Sudetendeutsche und wurden vertrieben. Bis ans Ende ihres Lebens kamen sie innerlich nicht zur Ruhe. Auch ich spüre eine innere Unruhe in mir, die ich mir nicht erklären kann.“ „Meine Eltern waren Alkoholiker und Mama zudem dauernd krank. Ich musste schon als Kind für die Familie kochen und die Verantwortung für meine kleineren Geschwister übernehmen.“ „Schon als ich zur Welt kam, war für meine Mutter klar: Ich hatte ein Wunderkind zu sein. Ich war aber natürlich keines. Ich hatte keine Chance, ihre Erwartungen zu erfüllen.“ „Mein Vater hat mich jahrelang sexuell missbraucht.“ „In der Schule gab es drei ältere Buben, die haben mir täglich am Weg zum Zug aufgelauert und haben mich verprügelt. Ich hatte jahrelang jeden Tag große Angst. Die Lehrer halfen mir nicht, obwohl sie es wussten. Es meinen Eltern zu erzählen, traute ich mich nicht.“

Ich könnte hier noch endlos lang weiterschreiben, aber ich lasse es jetzt einmal gut sein. Sie haben schon einen Eindruck von dem bekommen, was ich meine: Trauma und andere psychische Verletzungen haben viele Gesichter. Sie können Folgen bis ins hohe Alter nach sich ziehen. Der Zusammenhang dieser sehr unterschiedlichen Auswirkungen mit unseren Kindheitsverletzungen ist uns dabei meist gar nicht bewusst, doch diese Auswirkungen beeinträchtigen oft uns selbst und unsere Beziehungen stark.

 

Den Teufelskreis durchbrechen

In all diesen Kindheitsgeschichten haben die Kinder Schmerz, Verletzungen, Angst erlebt. Diese Kinder, die wir damals waren, verstecken sich auch heute noch ganz tief in uns drinnen. Und gerade in Liebesbeziehungen mischen sie auch heute noch oft sehr stark mit, ohne dass uns das bewusst wäre.

In der Therapie helfen wir heute gemeinsam diesen verletzten und verängstigten kleinen Kindern von damals.

Ich erkläre gleich genauer, was ich meine.

Stellen Sie sich z.B. einen 5jährigen kleinen Buben vor, nennen wir ihn Michael, der abends oft im Bett lag und hörte, wie seine Eltern einander wütend anbrüllten und dabei immer wieder auch schwer handgreiflich wurden. Michael hatte dann panische Angst, er hatte Todesangst.

Heute ist Michael 45 Jahre alt und kommt mit seiner Frau, nennen wir sie Lisa, zur Paartherapie zu mir. Es stellt sich heraus, dass auch er heute oft mit seiner Frau sehr heftig streitet und die gemeinsame kleine Tochter Marie ihre Eltern oft heftig streiten hört. Genau das wollte Michael seinen Kindern niemals, niemals, niemals antun! (Einiges dazu, wieso er es dennoch tut, können Sie in meinen Blogartikeln „Das Wundermittel `Zurückverbinden´“ und „Der kleine Bub in der dicken Kruste“ lesen).

Von außen betrachtet erkennen wir: Michael wiederholt die traumatisierenden Situationen aus seiner Kindheit.

Der erwachsene Michael leidet sehr darunter, denn der ewige Streit ist furchtbar, zermürbend und macht ihm permanent Angst und Panik: Seine Frau könnte ihn verlassen, die Familie zerbrechen.

Und innen, ganz tief drinnen, erlebt der kleine 5jährige Michael, dem damals niemand geholfen hat und dem bis zum heutigen Tag, also seit mittlerweile 40 Jahren, niemand geholfen hat, wie im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ immer wieder dasselbe: die panische Angst von damals. Jede der heutigen Streitsituationen mit seiner Frau triggert die Angst des Kleinen da drinnen. Jede dieser Streitsituationen wirkt retraumatisierend auf den kleinengroßen Michael. Ein Teufelskreis, eine unselige Spirale, aus der Michael sich nicht befreien kann.

 

Innere Kinder „retten“

In der Therapie „finden“ wir den Kleinen von damals, dem als Kind niemand zu Hilfe gekommen ist, dem niemand helfen konnte, weil niemand da war, der das gekonnt hätte. Und wir sorgen dann im Hier und Jetzt gemeinsam dafür, dass dieses verängstigte, verletzte Kind von damals endlich das bekommt, was es so gebraucht hätte: Im Fall von Michael sind das z.B. Trost, Schutz, Verständnis, Hilfe. Man könnte fast sagen, wir „retten“ diese Kinder. Im Fall einer Paartherapie kommen gleich drei Retter Ihrem inneren Kind zu Hilfe: Sie selbst (der Erwachsene, der Sie heute sind), Ihr Partner/Ihre Partnerin und ich als Begleiterin und Unterstützerin, die Ihnen zeigt, wie Sie dies tun können. Sie werden sich jetzt vielleicht fragen: Was, nach 40 Jahren?? Wie soll das bitte funktionieren?! Ich antworte darauf: Ja. Auch nach 40 oder noch mehr Jahren. Sie können auch heute noch ganz dick Salbe auf Ihre Wunden von damals streichen.

 

Sobald der große Michael lernt, dem verängstigten kleinen Michael in ihm all das zu geben, was dieser so sehr braucht, kommt ein wohltuender innerer Heilungsprozess in Gang. Endlich. Nach 40 Jahren. Und auch im Außen wird sein Konflikt zu seiner Frau Lisa (bei der sehr wahrscheinlich ein ähnlicher Prozess zur „Rettung“ innerer Kinder „not-wendig“ und hilfreich sein wird) entschleunigt und beruhigt. Friede gelingt immer besser.

Ein Gefühl von Sicherheit darf erste zarte Wurzeln schlagen.
Michael und Lisa sind erleichtert.

Und ihre kleine Tochter Marie, die wie alle Kinder die Luft zwischen ihren Eltern atmet, kann ebenfalls befreit aufatmen.

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